Wie Trauer uns in ein bedeutungsvolleres Leben führen kann
Von der Affirmationen zur Transformation
Traurigkeit ist ein Gefühl, dem viele Menschen gerne ausweichen. Dabei liegt in starken Emotionen eine große Chance und Kraft. Sie erschüttern uns, werfen uns aus der Bahn und geben uns die Möglichkeit innezuhalten und unser Leben zu überprüfen.
Trauer als Möglichkeit für ein sinnerfülltes Leben
Es ist ein moderner Slogan geworden: positiv Denken! Diese Art von Affirmation soll uns ausrichten auf das, was angenehm ist, was Freude bereitet und so das, was häßlich und schmerzhaft ist, aus den Fokus rücken. Sich die ganze Zeit nur auf das Positive zu fokussieren ist aber keine Lösung – und macht schon gar nicht dauerhaft glücklich.
Vielleicht hast Du genug Dein Leben nur unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass das Glas halbvoll ist? Vielleicht bemerkst Du auch, dass die andere Seite der Medaille sich immer wieder in Deinen Fokus drängt – und Du müde davon bist zu denken, Du bemühst Dich nicht genug positiv zu sein?
Überraschender Weise gibt es immer einen sehr guten Grund, warum Traurigkeit gerade jetzt in diesem Moment da ist. Wir können Trauer nicht einfach aus unserem Leben herausradieren, nur weil wir uns damit gerade nicht beschäftigen wollen – denn, sie hat eine wichtige Bedeutung für unser Leben.
Warum wollen wir Gefühle wie Traurigkeit vermeiden?
Dem Gefühl der Traurigkeit kommt – anders als bei Wut oder Sorge beispielsweise – oft ein negativ bewertendes Gefühl hinzu. Trauer wird als ein Zeichen von Schwäche und Hilflosigkeit gesehen – und damit abgewertet und möglichst schnell überwunden. Eigentlich ist sie vielmehr ein Hindernis, welches es zu überwinden gilt um endlich wieder das Ziel der Freude zu erreichen.
Jede Zeitepoche hatte eine Art Motto, unter der sie stand. In den 60er Jahren beispielsweise waren Freiheit und Frieden Werte der sogenannten „Blumenkinder”. Heutzutage sprechen wir eher von der „Zitronenprinzessin” einem Versuch rein und unschuldig zu bleiben – alles ist toll und ich bin glücklich. Das wird besonders auf Plattformen wie TikTok und Instagram zelebriert.
Der Glaube, dass das was Du erreichen willst, durch die Fokussierung auf das Positive geschieht, ist illusorisch. Es ist ein vermeintliches Glücksgefühl, welches sich einstellt, wenn Du denkst, dass alles schon da ist, das alles doch gut ist. Es klammert etwas Wesentliches aus: den Kontakt mit der Realität, den Kontakt mit Dir selbst, das Erleben von wahrhaftigen Gefühlen.
Sind Trauer und Freude ein Widerspruch?
Nein. Die Frage ist eher, ob es Dir gelingt Trauer als etwas in Deinem Leben zu akzeptieren. Dann löst sich der vermeintliche Widerspruch zwischen Freude und Trauer auf. Es gibt eine Forschungsreihe, welche untersuchen wollte, ob eher bei Freude oder Trauer ein Ereignis als besonders eingestuft wurde. Heraus kam, dass es nicht an dem Gefühl an sich liegt, ob uns etwas sehr einprägsam ist, sondern an der Intensität wie wir diese Situation bzw. dieses Gefühl erleben.
Das Gefühl traurig zu sein ist nicht der Gegenspieler von Freude – im Gegenteil: es ist die Voraussetzung um Freude überhaupt erleben zu können. Daher können beide nicht voneinander getrennt betrachtet werden.
Der Psychologe Brock Bastian hat in seinem Buch „The other side of happiness” (Auf der anderen Seite der Freude) eindrücklich beschrieben, dass die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Trauer darin bestehen, dass sie als Widerspruch zum Genuss, also zum Erleben des Schönen, gesehen werden. Gefühle wie Trauer sind aber nicht zufällig da, sondern notwendig um Freude zu empfinden. Die Sucht nach Positivität, das unaufhörliche Streben nach Genuss, führt uns eigentlich zum Leiden. Ohne Schmerz und Trauer können wir wahre Freude nicht erleben.
Leben in der westlichen Kultur birgt ein größes Risiko an Depressionen oder chronischen Ängsten zu erkranken als bei Menschen des östlichen Kulturkreises.
Der Schein der Positivtät
Noch einmal TikTok – positive Übertreibung ist etwas, was sehr stark in unserer Gesellschaft durch die Medien gefördert und befeuert wird. Die digitale Welt lehrt uns (unangepasste) Gefühle zu unterdrücken bzw. zu ignorieren. Dadurch reduziert sich die Möglichkeit unsere Wahrnehmung zu erweitern.
Eine weitere Studie hat Bilder auf denen gelächelt wird untersucht – und zeigt auf, dass in den meisten Fällen nicht Freude der Hintergrund, sondern negative Gefühle waren, die durch ein Lächeln überdeckt werden sollten. Alle wollen glücklich sein – und wenn schon nicht im wirklichen Leben – dann doch zumindest als Abdruck in der digitalen Welt. Es ist wie ein Spiel, in dem man ganz einfach ein Bild von sich hochlädt, was den Eindruck vermittelt, es gehe einem blenden, man ist erfolgreich, jung, schön … und vor allem: glücklich. Ein Leben, das man unter Kontrolle hat.
Es kann aber niemand immer nur positiv sein. Wir alle haben negative Gefühle und Gedanken in uns, welche sich durch Weggucken auch nicht in Luft auflösen. Du kannst Abstand von Gefühlen wie Traurigkeit nehmen – aber Du kannst dadurch nicht mehr Freude erleben. Das halbleere Glas ist immer noch da – und es hat einen Grund, es birgt eine Bedeutung die es zu erkennen gilt.
Den Schatz starker Gefühle heben
Alles passiert aus einem bestimmten Grund. Dadurch dass Du die negativen Gefühle ignorierst, verpasst Du die Chance etwas zu verstehen.
Es gibt drei Kräfte, die in diesem Zusammenhang wichtig zu verstehen sind: Die Kraft der Aufnahme, der Bearbeitung und der Ausscheidung. Oder äquivalent: das Denken, das Fühlen und die Handlung.
Von giftiger Positivität spricht man, wenn dadurch sogenannte negative Gefühle keine Daseinsberechtigung mehr haben. Dies erzeugt einen Stau der Gefühle. Dies wiederum führt zu einer Reduzierung der Wahrnehmungsfähigkeit – und somit auch zu einer Reduzierung der Handlungsfähigkeit. Negative Gefühle zu ignorieren und zu vermeiden führt früher oder später zu Depression und Krankheit.
Es ist ein Gesellschaftsproblem mit dem wir hier konfrontiert sind. Wir haben nicht gelernt mit „negativen Gefühlen” umzugehen und sie schon gar nicht als Chance zu betrachten, etwas Neues in uns durch sie zu entdecken.
Je mehr wir negative Gefühlen ignorieren, desto mehr verlieren wir die Fähigkeit Gefühle überhaupt wahrzunehmen und auszudrücken.
Je mehr wir negative Gefühlen ignorieren, desto weniger können wir diese Emotionen auch bei anderen Menschen erkennen und akzeptieren, weil wir es nicht ertragen.
Je mehr wir negative Gefühlen ignorieren, desto mehr verurteilen wir andere Menschen, die Gefühle zeigen – wir ignorieren sie oder belächeln sie sogar – weil wir diese Gefühlen nicht fühlen möchten.
Dadurch verpassen wir die Chance in eine wahre und tiefe Verbindung zu unseren Gefühlen und zu unserem Gegenüber zu kommen . Dies ist aber genau der Moment der Chance sich zu verändern, der Raum für Transformation.
Der Unterschied zwischen Affirmation und Transformation
Es gibt drei Möglichkeiten auf negative Gefühle zu reagieren:
Ignoriere das Gefühl komplett. Früher oder später wird sich dies negative auf Deine seelische und körperliche Gesundheit auswirken – und auch auf Deine Fähigkeit Gefühle wahrzunehmen, bei Dir und bei Anderen.
Versuche das Gefühl mit Positivist zu übertünchen. Mit dieser Variante belügst Du dich selbst und verpasst die Chance etwas in Dir oder in Deinem Leben zu erkenn und zu verändern.
Sei bereit, das Gefühl zu fühlen. Das fühlt sich ersteinmal ungeahnt an. Viele haben Angst, dass Sie dann die Kontrolle verlieren und auf ewig vom reißenden Strudel des Gefühls verschluckt werden. Aber dem ist nicht so. Sei bereit hinzuschauen und wahrzunehmen und den Sinn dahinter zu erkennen.
Innen und Außenwelt
Es gibt zwei Bewegungen: die eine ist nach Außen, die andere nach Innen. Diese Bewegung ist eine ganz natürliche, welche immer existiert – in der Natur wie auch in unserer Seele. Negative Gefühle führen häufig nach Innen, und fordern uns auf unsere Innenwelt zu erforschen und wahrzunehmen. Positive Gefühle werden oft von einer Bewegung nach Außen begleitet, sie wollen geteilt werden, in die Handlung kommen. Es erfordert ein gesundes Gleichgewicht zwischen Innen- und Außenprozessen. Zeiten, die von intensiven und herausfordernden Gefühlen geprägt sind, fordern uns auf nach Innen zu schauen und wie die Raupe im Schmetterling den Transformationsprozess zu vollziehen.
Erst jetzt kann Entwicklung stattfinden, kann Kreativität entstehen, Deine Sinne sich ausweiten, Erkenntnis nachhaltig werden. Und wenn Du bereit bist, Deine Gefühle wahrzunehmen, erweitern sich auch Deine Herzkräfte.
Natürlich bedeutet all dies nicht, dass man nicht auch glücklich sein darf, dass man nicht feiern soll und jubeln vor Freude. Es geht vielmehr darum eine Fähigkeit zu entwickeln, dem Schmerz in die Augen zu schauen und da hinzugehen, wo er entstanden ist, denn nur dort kann er schließlich transformiert und in etwas Gutes verwandelt werden.
Leiden entsteht sozusagen durch einen Stau der Gefühle. In dem Moment, in dem ich mir erlaube, meine Gefühle zu spüren, beginnt die Lebensenergie wieder zu fließen und automatisch verschwindet auch das Leiden – und es entsteht Erleichterung. Jede Krankheit und jede emotionale Schmerz will – gemäß dem Gesetz der Natur – gefühlt und wahrgenommen werden. Auch der körperliche Schmerz ist oft Ausdruck eines emotionalen Staus, welcher nicht wahrgenommen wird. Hinschauen und Akzeptanz führen in die Bewegung.
Das Gefühl zu denken ist immer noch Teil des Staus. Ein Gedanke will immer zu einem Gefühl werden. Und ein Gefühl will immer bis zu Ende gefühlt werden, so dass danach die Handlung geschehen kann, die Lösung. Dabei entspricht der Gedanke dem Aufnehmen, dem Akzeptieren. Das Gefühl ist die Bereitschaft zur Bearbeitung und zur Transformation. Die anschließende Handlung ist die Kraft der Ausscheidung, das Loslassen, die Bereitschaft für etwas Neues.
Nur durch diesen Prozess kommen wir in eine Befreiung und Befähigung zu neuer Kreativität, neuem Selbstbewusstsein und Erfolg im Leben, zu neuen Entdeckungen, neuen Begegnungen, zur Entdeckung neuer Aspekte, von denen wir davor nicht gewusst haben, dass sie existieren.
Traurige oder negative Gefühle aktivieren uns
Es gibt einen weiteren Vorteil durch die Akzeptanz negativer Gefühle: ein besseres Erinnerungsvermögen. Es wurden Untersuchungen gemacht, bei denen der Zusammenhang zwischen Menschen, die gerade missgestimmt sind und deren Erinnerungsvermögen im Gegensatz zu gutgelaunten Menschen. Die missgestimmten Probanden konnten sich die Details eines Einkaufsladens um einiges besser merken, als die Frohnaturen. Auch ein besseres und genaueres Urteilsvermögen wird einer getrübten Stimmung zugeschrieben sowie weniger Vorurteile und Stereotypdenken. Wir scheinen, wenn es uns nicht so gut geht, viel offener und vorbehaltloser in Situationen und in Kontakt mit anderen Menschen zu gehen. Es gibt aber eine Voraussetzung: die schlechte/herausfordernde Stimmung/Lage muss akzeptiert sein.
Bei einer weiteren Untersuchung sollten schwere Aufgaben bewältigt werden, die mit einem belastendem emotionalen Aspekt verbunden sind. Die Menschen, welche sich selber im emotional belasteten Zustand befanden, waren viel intensiver und länger bei der Aufgabe, haben mehr Zeit investiert und eine detailliertere Zusammenfassung und Antwort der Aufgabe geben können.
Wenn wir Freude erleben, wollen wir diesen Zustand natürlicher Weise aufrecht erhalten. Trauer gilt automatisch als ein Alarmsignal: es weckt in uns eine Motivation uns mit Aufgaben anders auseinanderzusetzen. Daneben sind wir bestrebt, unseren Zustand wieder zu verändern. Die Akzeptanz des Bestehenden und die Bereitschaft zur Veränderung, sind wie ein Schalter, den man betätigen kann, eine Gelegenheit zur Transformation.
Auch in der Kommunikation mit Anderen wurde festgestellt, dass sich unser Redestil verfeinert und wir viel mehr Aufmerksamkeit für unser Gegenüber haben, wenn wir selber emotional gefordert sind. Diejenigen, die selber traurig sind, können Situationen um einiges besser wahrnehmen und verstehen sowie einfühlsamere und argumentationsreichere Gesprächsgegenüber sein.
Traurig sein bedeutet nicht depressiv sein. Du brauchst keine Angst zu haben, dass wenn Du Traurigkeit zulässt, Du in eine Depression rutschst. Es gibt einen großen Unterschied: Trauer kommt und geht, während eine Depression stabil bleibt. Zeichen von Trauer können sein: Weinen, Schwierigkeiten Einzuschlafen, Appetitlosigkeit oder zu viel Essen als Kompensation, ein erhöhter Alkoholkonsum, Interessensverlust für schöne Tätigkeiten... Symptome einer Depression hingegen beinhalten das Gefühl von Leere, Pessimismus, Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle und Wertlosigkeit sowie Energielosigkeit und der Gedanke, sich selbst zu verletzen.
Über die Bedeutung innerer Befreiung und Selbstverwirklichung
Ich möchte enden mit den Worten von Khalil Gibran, welcher sehr gut diese Verbindung zwischen Trauer und Freude beschreibt:
Von der Freude und von dem Leid
Eure Freude ist euer Leid ohne Maske. Und derselbe Brunnen, aus dem euer Lachen aufsteigt, war oft von euren Tränen erfüllt.
Und wie könnte es anders sein? Je tiefer sich das Leid in euer Sein eingräbt, desto mehr Freude könnt ihr erfassen.
Ist nicht der Becher, der euren Wein enthält, dasselbe Gefäß, das im Ofen des Töpfers gebrannt wurde?
Und ist nicht die Laute, die euren Geist besänftigt, dasselbe Holz, das mit Messern ausgehöhlt wurde?
Wenn ihr fröhlich seid, schaut tief in eure Herzen, und ihr werdet finden, dass nur das, was euch Leid bereitet hat, euch auch Freude gibt.
Wenn ihr traurig seid, schaut wieder in eure Herzen, und ihr werdet sehen, dass die Wahrheit um das weint, was euch Vergnügen bereitet hat.
Einige von euch sagen: „Freude ist größer als Leid". Und andere sagen: „Nein, Leid ist größer".
Aber ich sage euch, sie sind untrennbar.
Sie kommen zusammen, und wenn einer alleine mit euch am Tisch sitzt, denkt daran, dass der andere auf eurem Bett schläft.
Wahrhaftig, wie die Schalen einer Waage hängt ihr zwischen eurem Leid und eurer Freude.
Nur wenn ihr leer seid, steht ihr still und im Gleichgewicht.
Wenn der Schatzhalter euch hochhebt, um sein Gold und sein Silber zu wiegen, muss entweder eure Freude oder euer Leid steigen oder fallen.
Khalil Gibran, arabischer Dichter (1883-1931), aus: Der Prophet